Das Mysterium chiburi


In den meisten Iaidō-Schulen ist Chiburi ein grundlegender Bestandteil der Kata. Chiburi, ( 血振 ) geschrieben, bedeutet wörtlich „Blut abschütteln“. Der allgemeine Konsenz ist, dass das Blut des Gegners nicht auf der Klinge verbleiben soll, bevor Nōtō ausgeführt wird. Wer einmal „live“ versucht hat, eine zähflüssige, blutartige Substanz mittels einer geschickten Bewegung von der Klinge zu schleudern, weiß, dass das Blödsinn ist. Allein bei der Beschleunigung der Klinge tropft ein Rest auf die Bekleidung, womit Chiburi ad absurdum geführt wird. Im Muso shinden ryu wird das Chiburi zudem wie ein Schnitt aufgeführt, was es noch einmal schwieriger macht. Wozu also Chiburi? Wozu etwas sinnloses üben? Und warum üben die allermeisten Ryuha (Schulen, Stile wie Muso Shinden-ryu und Muso Jikiden Eishin-ryu) Chiburi? Wes wirklich jemals beabsichtigt, Blut von einer Klinge zu entfernen?

In manchen japanischen Wörterbüchern (Kojien, Iwanami shoten) allerdings steht, dass die ursprüngliche Lesart „chiburui“ ist.  In seinem Buch „Koryu Iai no Hondo“ zitiert der verstorbene Iwata Norikazu einen anderen Eishin-ryu-Lehrer, Morita Tadahiko, mit seiner Behauptung, dass „Chiburui“ der genauere Begriff ist und dass „Chiburi“ tatsächlich eine falsche Lesart ist (das Wort „Chiburi“, das im Wörterbuch erscheint, bezieht sich eigentlich auf eine Methode zur Zubereitung von Fisch). Da sich „Chiburi“ aber weltweit durchgesetzt hat, wird dieses Wort weiterhin verwandt, es sei denn, mein Sensei verlangt danach.

(c) Copyright courtesy Anette Maul
(c) Copyright courtesy Anette Maul

Chiburi als reines Blut entfernen von der Klinge abzustempeln ist demnach nicht so ganz richtig. Denn einmal ernsthaft: Da die meisten Iaidōka ohnehin ein tenogui bei sich tragen, wäre es besser, das Blut mittels eines Tuches zu entfernen, was sicherlich auch gründlicher und nachhaltiger wäre. Denn das Blut mittels Chiburi von der Klinge zu wippen, kann so nicht ganz gelingen und ein Teil des Blutes würde dann in der saya verhärten. Ich gehe davon aus, dass es leichter ist, ein tenogui zu waschen als eine saya von innen zu reinigen. Kono Hyakuren, 20. Sōke von Musō Jikiden Eishin-ryu, schrieb in seinem Buch: „Iaidō Shintei“:

 

„Chiburui: Dies hat die Form, Blut von deinem Schwert auf den

Boden zu schütten. Meiner Erfahrung nach bleibt jedoch beim

Schneiden mit einem Schwert nur sehr wenig Blut an der Klinge

haften. Dennoch macht die Betonung von Zanshin und Geist

durch die Form von Chiburui es zu einem nützlichen Werkzeug

für die Entwicklung.“

Kono Sensei war nicht der Einzige, der Chiburi in erster Linie als eine Methode zur 
Entwicklung von Zanshin verstand. Nakayama Hakudo schrieb sehr ausführlich über die
Chiburui anderer Stile, aber wir wollen das konzentrieren, was Hakudo sensei ausdrückt:
Chiburi legt den Schwerpunkt auf Zanshin vor dem Wiedereinstecken, was sich in vielen
Schulen in der simulierten oder tatsächlichen Reinigung der Klinge manifestiert. Ergo ist
es eine rituelle „Reinigung“ und dient der Fokussierung, sowie dem Bud
ō-Hintergrund
(wie das Abknien der Sitzkata).
Ein weiterer Aspekt der „Klingenreinigung“ ist das Nōtō selbst. Dadurch, dass die Klinge 
während des Nōtō mehr oder weniger durch die vorgelagerten Finger gleitet, wäre dies
eine effektivere Methode, die Klinge von Rückständen zu befreien. In der Tat möchte ich
annehmen, dass ebendies ineinandergreift. Das chiburi, um den Großteil der Rückstände
von der Klinge zu schnippen und Nōtō, damit der Rest an den Fingern verbleibt.
Im Folgenden beziehe ich mich auf das  chiburi des Musō shinden ryu. Hier nimmt Chiburi
zwei Grundformen an. Der erste Typ, dem die Schüler begegnen werden, ist das
charakteristische Chiburi von Omori-ryu. Dies wird allgemein als o-Chiburi (
大血振)
bezeichnet, was „großes Chiburi“ bedeutet, und wird durchgeführt, indem die Tsuka des
Schwertes zur rechten Schläfe gebracht und die Spitze in einem Bogen geschwungen wird,
als würde die Migi-Kesa-Linie abgeschnitten. Je nach Lehre(r) variiert der genaue Weg der
Klinge und der Punkt, an dem sie ihren Schwung beendet, aber im Grunde ist die Bewegung dieselbe. Die andere Form von Chiburi wird
allgemein als Yoko-Chiburi (
横血振) oder Kochiburi (小血振) bezeichnet und wird durchgeführt, indem man das Schwert waagerecht nach
rechts bewegt, wobei die Klinge fast parallel zum Boden ist und die scharfe Seite nach rechts zeigt. Diese Bewegung wird normalerweise
scharf ausgeführt, obwohl es wiederum vom Lehrer und der Abstammung abhängt. Trotz einer scharfen Bewegung sollte jedoch
offensichtlich sein, dass Yoko-Chiburi zum Entfernen von Blut nicht praktikabel ist. O-chiburi ist nach den obigen Zitaten auch unpraktisch;
aber es ist weniger schwierig, sich vorzustellen, dass es bis zu einem gewissen Grad funktioniert. Yoko-chiburi hingegen wird ganz klar
niemals Blut von der Klinge entfernen, ganz zu schweigen vom seltsamen chiburi in soete tsuki! Hier darf Masaoka sensei zitiert werden:

Warum heißt diese Bewegung Chiburi? Die Wahrheit ist, dass der große Schwung, der im Omori-ryu ausgeführt 
wird, seit geraumer Zeit Chiburi genannt wird. Die Betrachtung der Omori-ryu-Abschnitte des Densho
(Curriculum) aus der Edo-Zeit sowohl aus Shimomura-ha als auch aus Tanimura-ha Eishin-ryu beweist dies. Wenn
wir jedoch zu Hasegawa Eishin-ryu (Chuden und Okuiai) selbst weitergehen, verschwindet das Wort plötzlich aus
dem Densho. In Beschreibungen sowohl von Omori-ryu (wo es zweimal vorkommt) als auch von Hasegawa Eishin-
ryu (wo es in jedem Waza vorkommt) wird das, was heute allgemein als Yoko-Chiburi bezeichnet wird, als
„Öffnung“ (
開き) oder „Öffnung nach Rechts“ (右に開き). Es wird nicht einmal als Chiburi bezeichnet. Die Idee
dieser Bewegung als „Blut von der Klinge schütteln“ könnte später entstanden sein, vielleicht als Verschmelzung
der beiden, bewiesen ist dies jedoch nicht. Diese ‚Öffnung des Rechts‘ wird heute als ‚kleines Chiburi‘ bezeichnet.
Wenn wir uns diese Betrachtungen ansehen, können wir den Schluss ziehen, dass das, was wir heute als Chiburi
bezeichnen, ursprünglich wahrscheinlich nicht als praktische Reinigungsmethode gedacht war. Wie auch? Stellen wir uns eine Horde
Samurai vor, die in einer Schlacht jedesmal nach dem Töten eines Gegners ihr Katana reinigen. Das ist Unsinn, und nicht praktikabel im
realen Einsatz. Geht man jedoch davon aus, dass es nach der Reform des Battojutsu zum Erlernen von Zanshin und Druck auf den Gegner
Bestandteil der Kata werden sollte, stimme ich dem zu. All das sind natürlich keine überraschenden Schlussfolgerungen. Ich bin sicher, dass
jeder, der sich in der Tiefe mit Iaid
ō beschäftigt, dies bereits selbst erkennen konnten.