Angela von der Geest, renshi, 6. Dan Iaidō

Angela von der Geest

renshi, 6. Dan Iaidō

Ich lernte Angela von der Geest 2018 auf dem Furuichi-Seminar in Osnabrück als sehr junger Iaidōka kennen. Beide verletzungsbedingt auf der Zuschauerbank, folgten wir gebannt Furuichi Sensei bei seinen Ausführungen. Da ich lange in Hamburg gelebt habe, sehe ich diese Stadt als Heimat an. Angela leitet dort die Abteilung Iaidō des AMTV Rahlstedt. Seitdem sehen wir uns regelmäßig immer wieder auf Seminaren, Taikais und Prüfungen. Meine erste Prüfungs-Urkunde im Iaidō zum Ikkyu sowie zahlreiche Preise der Landesmeisterschaften durfte ich aus ihren Händen entgegennehmen.

Angela sensei hat Japanologie studiert und ist seit über 35 Jahren fester Bestandteil der Iaidō - Gemeinde Deutschlands. Sie ist zweifache Europameisterin und blickt auf eine lange Karriere im Iaidō zurück. Bis 2021 war sie tragendes Mitglied des Komitees des Deutschen Iaidō - Bundes und brachte mit den anderen Komitee Mitgliedern ein Buch heraus (Wörterbuch für die Kampfkunst Iaidō), mit dem die Wissens und Verständnislücken weitestgehend geschlossen wurden. Ich lernte Angela als in sich ruhende, fest im Leben verankerte Persönlichkeit kennen, die mit ihrer Souveränität, Freundlichkeit und inneren Haltung in der deutschen Iaidō - Szene Massstäbe setzt.


Liebe Angela, was hat dich am Iaidō fasziniert, als du angefangen hast?

Während einer Klassenreise durfte ich in der Sportschule Malente Judō üben. Das hat mir unglaublich viel Spaß gemacht. Aber meine Eltern wollten damals nicht, dass ich mit Judō anfange. Vermutlich, da ich bereits jeden Tag nach der Schule mit Handball, Schwimmen, Basketball, Leichtathletik oder Rock ‘n‘ Roll sehr beschäftigt war... Aber ganz losgelassen hat mich die Philosophie, die hinter den japanischen Kampfkünsten steckt, seitdem nie. Nachdem ich während eines Besuches des „Haus der Stille“ in Roseburg die Zen-Meditation für mich entdeckte, war ich sofort Feuer und Flamme, als ich dem für mich völlig neuen Iaidō begegnete. Dabei hat mich besonders der Zen-Einfluss und die Eleganz des Schwertes sowie der Kata fasziniert. Zen war nicht mehr nur Sitzen und Meditieren, sondern Bewegung. Das war ich damals und bin es auch heute noch.

Wenn du zurückblickst, was hat sich im Training und in der Gemeinschaft verändert?

Ich habe einiges im Iaidō erlebt: sektenähnliche Strukturen, Macht- und Imponiergehabe, vor allem aber unzählige wunderbare gemeinsame Momente. Als ich mit Iaidō anfing, stand für mich das gemeinsame intensive Üben im Vordergrund. Ich hatte große Freude daran, mich konzentriert zu bewegen, meine Technik immer weiter zu verbessern und zu verfeinern. Alles war neu und spannend. Ich habe keine Übungseinheit verpasst und auch zu Hause nicht aufgehört, mich mit und ohne Schwert mit allen Aspekten der japanischen Kampfkünste zu beschäftigen. Ich ging in jedes Training und in Seminare, um Neues zu lernen. Auch Hinweise, die ich zum x-ten Mal hörte, habe ich aufmerksam angenommen und forschte, ob ich vielleicht etwas übersehen hatte. Prüfungen oder Wettkämpfe waren lange Zeit überhaupt kein Thema – jedenfalls nicht für mich. Heute habe ich oft das Gefühl, dass sich viele über ihre Graduierungen oder Erfolge definieren. Das finde ich falsch. Gemeinsames Üben, Anfängergeist und Lernen voneinander waren und sind für mich das Wichtigste im Iaidō – und im Leben. Ich wundere mich immer wieder, dass wichtige Aspekte wie zum Beispiel „Taikai“ mit „Wettkampf“ gleichgesetzt wird. Aber es bedeutet „Zusammenkunft“ oder „großes Treffen“, also „gemeinsames Üben“. Ich bin der Meinung, dass sich niemand über andere stellen darf. Jeder hat sein Wissen und seinen Weg; das sollte respektiert werden.

Welche Einflüsse hatten deine Sensei auf Training, Einstellung und Leben?

Den größten Einfluss hatte Sagawa Sensei auf mich. Ich war keine 20 Jahre alt, als ich ihn kennenlernte. Für mich war er wie ein liebender Großonkel. Ich habe mir keine Gedanken gemacht, Schülerin eines japanischen Sensei zu sein. Naiv wie ich war, habe ich es als etwas besonders Schönes und als Glück gesehen, bei ihm auf Seminaren in Europa und in seinem Dōjō in Tokio trainieren zu dürfen. Ich hatte nie
vor, irgendwann einmal selbst vorne zu stehen. Ich wollte nur lernen, üben, mich immer weiter verbessern und gutes Iaidō machen. Ist das nicht der Kern der Budō-Künste? Sagawa Sensei hat mich durch seine offene Art und sein intensives Training für mein Leben und meine Einstellung geprägt. Vieles, was ich von ihm lernte, verstehe ich erst jetzt und mir wird bewusst, was er meinte oder worauf er hinauswollte. Als er gestorben war, sagte Sylvia Ordynsky Sensei zu mir, dass er mich gern noch einmal gesehen hätte. In dem Moment ist mir erst klar geworden, dass ich seine Schülerin war. Außerdem hatte ich ein recht enges Vertrauensverhältnis zu Soejima Sensei. Ich gehörte zu den ganz wenigen Iaidōka aus Deutschland, die von ihm in das Dōjō eingeladen worden sind, in dem er selbst trainierte. Die Übungsstunden mit uns Ausländern haben normalerweise nur in eigens dafür gemieteten Räumen stattgefunden. Auch von ihm lernte ich sehr viel, habe ihn aber nicht gefragt, ob ich seine Schülerin sein darf. Zu der Zeit war ich bereits auf dem Weg zum Rokudan. Heute folge ich Furuichi Sensei und er hat meine Gruppe unter seine Fittiche genommen. Das macht mich sehr stolz, denn Furuichi Sensei verkörpert genau das, was für mich so elementar ist: voneinander lernen, sich nicht über andere stellen, jeden respektieren. Dennoch klar und deutlich eine Richtung vorgeben.

Was hat Iaidō mit dir gemacht?

Ohne Iaid
ō wäre ich nicht die, die ich jetzt bin.

Wie siehst du den Unterschied zwischen Lernen und Lehren?

 

Ich wollte immer nur lernen und finde es auch völlig in Ordnung, wenn jemand nicht unterrichten möchte. Aber durch das Lehren steige ich tiefer in die Materie ein. Ich muss mir Gedanken machen, wie ich etwas erkläre – und warum. Als Lehrende bin ich dafür verantwortlich, dass der oder die Übende mich versteht und Korrekturen richtig umsetzen kann. Ich muss die Situation, in der sich jemand befindet, lesen und ergründen können und darf nicht immer nur an Ergebnissen „herumdoktern“. Ich muss Ursachen finden. Das ist eine Herausforderung, die man nicht nur einmal im Jahr auf einem Lehrgang oder Seminar annehmen sollte, sondern im regelmäßigen Training. Erst im Weiterkommen der Lernenden zeigt sich wirklich, ob jemand unterrichten kann. Daher bin ich auch der Meinung, dass für die Shōgō-Regularien die Leitung einer Gruppe zwingend erforderlich sein sollte.

Für wie wichtig erachtest du, dass man ins Mutterland des Iaidō reist, um dort an der Quelle zu lernen?

Ich habe immer wieder das Gefühl, dass Leute glauben, wer einmal in Japan war, hat dort die „Weisheit mit Löffeln gefuttert“. Es gibt heute so viele Möglichkeiten, auch außerhalb Japans bei einer guten Lehrerin oder einem guten Lehrer zu üben. Deshalb finde ich es nicht so wichtig. Um Skifahren zu lernen, muss heute niemand zur „Keimzelle“ nach Norwegen fahren... Beim Iaidō geht es nicht darum, ein Land kennenzulernen, sondern an sich selbst zu arbeiten. Wichtig ist meiner Meinung nach, eine gute Einstellung zum Iaidō und zu seinen Mitmenschen zu finden und bereit zu sein, hart und mit viel Selbstdisziplin kontinuierlich sein Wissen und Können zu erweitern. Darüber hinaus denke ich, dass das Thema des ökologischen Fußabdruckes Einzug in die Iaidō-Gesellschaft halten muss. Unnötige Flüge – vor allem Inlandsflüge – müssen unbedingt vermieden werden. Der Klimawandel betrifft uns alle.

Siehst du eine Veränderung im Iaidō über die zurückliegenden Jahre?

Ja, absolut. Wie ich bereits erwähnte, kommt es mir so vor, dass sich viele nur noch über Graduierungen und Erfolge definieren. Das finde ich sehr schade, denn das wird der Sache nicht gerecht. Selbstverständlich ist es wichtig, sich Herausforderungen zu stellen, aber ich muss aufpassen, dass das Ergebnis nicht mein Denken und Handeln beeinflusst. Ein Beispiel: Nach einer gemeinsamen Prüfung sagte jemand zu mir, wie sehr er sich freue, bestanden zu haben und dass es ja nicht sein könne, dass ich es möglicherweise vor ihm geschafft hätte. Seine Ehrlichkeit hat mich beeindruckt. Ich werde mich keiner weiteren Prüfung mehr stellen können, weil ich diesem Streben meine körperliche Gesundheit geopfert habe. Soll ich deshalb mit meinem Üben aufhören? Es gibt noch so viele andere Herausforderungen. Ich bin noch lange nicht fertig. Teilweise wird Iaido aufgrund einer wachsenden beruflichen Belastung als entspannende Freizeitbeschäftigung gesehen. Das ist an sich nicht verwerflich, aber wenn ein Schwert zu einem Spielgerät mutiert, dann stimmt etwas nicht.

Wie siehst du die Zukunft des Iaido?

Zukunft? Was ist das? Ich lebe im Hier und Jetzt... 😉 Zukunft ist die Ernte dessen, was wir heute säen.

Welche ist deine fundamentalste Erinnerung?

Als ich mein Shinken zum ersten Mal in der Hand hielt.

Welche Botschaft würdest du den Iaidoka in Deutschland gern mitgeben?

Kurz nachdem ich mit Iaidō angefangen habe, schrieb ich ein Zitat von Yamaoka Tesshu in mein Notizbuch. Es begleitet mich seit den 1980er-Jahren: „Glaube nicht, dass dies alles ist. Es entstehen immer wieder herrliche Techniken – der Weg des Schwertes ist unergründlich. Die Welt ist groß und voller Ereignisse. Behalte dies immer im Kopf und glaube niemals: Ich bin der Einzige, der etwas weiß.“

Liebe Angela, vielen Dank für das Gespräch